Grundlagen der naturwissenschaftlich-medizinischen (Aus-) Bildung
© Copyright Tintaro - Verlag 2016
Manche Zusammenhänge in der Pathologie
(= Krankheitslehre) sind
„logisch”, doch ist das nicht durchgängig der Fall. Dennoch kann man
sich anhand von Grundkenntnissen der Anatomie und Physiologie durch
analytisch-logisches Denken viele Zusammenhänge herleiten oder in
Erinnerung rufen. Das dient als Lernhilfe, zur Rettung bei einem
„black-
out”
in der Prüfung und zur Ursachenforschung in der Praxis. Ein solches
Vorgehen soll im letzten Teil dieses Buches geübt und dabei ein kleiner
Überblick über wichtige Krankheiten vermittelt werden.
1. Einführung
Krankheiten haben eine oder mehrere Ursachen und mehr oder weniger
charakteristische Symptome.
Ursache(n) | → Krankheit | → Symptom(e) |
z. B. | ||
Vitamin C - Mangel | → Skorbut | → Zahnausfall |
Dieses Schema scheint ideal für die zum Lernen so beliebten Karteikarten.
So einfach und eindeutig ist es jedoch in den wenigsten Fällen. Vielmehr
können die gleichen Ursachen zu verschiedenen Krankheiten führen und
verschiedene Krankheiten die gleichen Symptome zeigen. Prinzipiell sieht
die Realität also eher so aus:
Nimmt man noch Komplikationen hinzu, d. h.
Krankheiten wiederum als
Ursache weiterer Krankheiten, werden die einzelnen Stränge entsprechend
länger und das Netz noch komplizierter.
Man könnte Listen anfertigen:
Ursache | → mögliche Krankheiten |
Symptom | → mögliche Krankheiten |
Krankheit | → mögl. Ursachen u. Komplikationen |
Karteikarten und Listen können hilfreich sein. Verliert man dabei jedoch
aus dem Sinn, dass sie nur Ausschnitte eines komplexen Wirkungsgefüges
wiedergeben, beschränken sie das Verständnis.
Als Hilfe, ausschnitthaftes Verständnis zu einem Netz zu verknüpfen, soll
in diesem Teil zu einer Denkweise angeregt werden, bei der es im Kern
statt um Abspeichern und Abrufen von Informationen darum geht, die
selbstständige Rekonstruktion der Zusammenhänge zu üben.
Diese Denkweise soll zunächst anhand eines völlig fachfremden Beispiels
erläutert werden:
Überlegen Sie mal, welche Störungen auf einer Autobahn auftreten können.
Bemühen Sie sich dabei, wie in der Medizin, nichts Gravierendes zu
über-
sehen.
Man kann sammeln, was einem so einfällt: Unfall, Stau, Baustelle, heftiger
Regen, nasse Fahrbahn, Eis, Nebel, Kühe oder Schafe, die auf die Fahrbahn
gelaufen sind, Geisterfahrer, viele LKWs oder andere langsame Fahrzeuge,
eine eingestürzte Brücke, …
Haben wir etwas Wichtiges vergessen? Und wenn ja, was?
Durch unsystematisches Schweifenlassen der Gedanken kann einem noch
dieses oder jenes einfallen. Effektiver und sicherer ist es, die Überlegungen
zu strukturieren, z. B.
durch gezielte Betrachtungen der Situation und des
Geschehens einschließlich des Umfeldes und daraus abgeleiteten
Frage-
stellungen.
Bei der Autobahn könnte man fragen:
Welche Störungen können von den Fahrzeugen ausgehen?
Welche Fahrzeuge und was außer Fahrzeugen kann sich auf der Autobahn
befinden?
Welche Störungen können von der Fahrbahn ausgehen oder sie betreffen?
Welche Störungen können von den Seiten (Gegenfahrbahn, Seitenstreifen
und darüber hinaus) und von oben und von unten kommen?
So kommt man z. B. vielleicht noch auf heruntergefallene Ladung, Risse im
Asphalt, einen umgestürzten Baum und, je nach Gegend, Steinschlag oder
Lawinen …
Lawinen mögen Ihnen weit herbeigeholt erscheinen, aber in der
medizini-
schen Praxis
ist es wichtig, auch ungewöhnliche Ursachen und Umstände
in Betracht zu ziehen wie vorangegangene Fernreisen, Kontakt mit Tieren,
besondere Umstände am Arbeitsplatz, …
Entsprechend systematisch könnte man sich z. B.
die möglichen Ursachen
von Darmverstopfung überlegen:
Die Ursache kann am Inhalt liegen (z. B. zu trocken),
an dessen Fortbewe-
gung (z. B.
mangelnde Muskeltätigkeit der Darmwand) oder direkt mit der
Darmwand zu tun haben (z. B. Darmverschlingung).
Es bietet sich an, bei jedem Themenkomplex erstmal zu überlegen, was für
Störungen aufgrund der gegebenen Strukturen und Funktionen prinzipiell
möglich sind, zunächst ganz ohne Berücksichtigung von eventuell bereits
vorhandenen Kenntnissen der Pathologie.
Im nächsten Schritt können diese Überlegungen mit eigenen Kenntnissen,
Informationen aus Büchern etc. und ggf. Unterricht verglichen und ergänzt
werden, speziell mit dem, auf das man durch einfaches Nachdenken nicht
kommt.
In diesem Sinne sollen im Folgenden einige allgemeine Themen und
wich-
tige Organbereiche beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit
an-
gegangen werden.
Mit ergänzenden Stichpunkten soll daraus ansatzweise
ein kleiner Überblick über das jeweilige Gebiet entstehen.
Es ist empfehlenswert, diese Herangehensweise nicht nur bei der
erstmali-
gen
Erschließung anzuwenden. In der Kombination mit fortgeschrittenem
Fachwissen wird die systematische Rekonstruktion ein noch effektiveres
Werkzeug. Sie verhilft zu einem Optimum an Übersicht und Orientierung
im Wirkungsgefüge der Pathologie und kann mit vielen anderen Faktoren
zusammen dazu beitragen, die im wahrsten Sinne des Wortes notwendige
Souveränität in der diagnostischen Praxis zu erreichen.
Ende der Einführung und der Leseprobe
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